Seit Jahren beschäftigen sich zahlreiche Gerichte mit der Frage, ob in Dieselautos der Daimler AG unzulässige Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung eingebaut wurden. Es sind noch tausende Klagen von geschädigten Mercedes-Besitzern anhängig. Der Bayrische Rundfunk (BR) berichtet jetzt von einem Gutachten aus einem Verfahren am Landgericht (LG) Stuttgart, das den schwäbischen Autobauer schwer belastet. Offenbar nutzt Daimler unter anderem die sogenannte Abschalteinrichtung Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung. Jetzt drohen dem Konzern weitere Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe.
Das Verfahren am Landgericht Stuttgart läuft bereits seit 2018. Der Besitzer eines Mercedes-Benz E250 CDI mit der Abgasnorm Euro 5 hat Daimler auf Schadensersatz verklagt. Laut dem Kläger verfügt sein Dieselfahrzeug mit dem Skandalmotor OM 651aus dem Baujahr 2013 über eine unzulässige Abschalteinrichtung – was Daimler bestreitet. Im Zuge des Verfahrens hatte die KAP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH im Juli einen IT-Experten beauftragt, die Motorsteuerungssoftware des Fahrzeugs zu prüfen.
Gutachter: Daimler nutzt illegale Abschalteinrichtung
Das Ergebnis stellt die Daimler AG vor ein großes Problem: Der Gutachter bestätigt, dass die Motorsteuerung „die niedrige benötigte Motorleistung“ auf dem Teststand erkennt, wenn der Prüfzyklus (NEFZ) durchfahren wird. Damit werden die Abgaswerte manipuliert, indem die Motorsteuerung die Kühlmittelsolltemperatur herunterregelt: „Die Motorsteuerung erkennt die damit einhergehende geringe Drehzahl und den geringen Luftmassenstrom, also die niedrige benötigte Motorleistung. Sie regelt dann die Kühlmittelsolltemperatur auf 70 Grad Celsius anstatt der sonst eingestellten Solltemperatur von 100 Grad Celsius. Die abgesenkte Kühlmitteltemperatur führt zu besseren NOX-Werten“, so der Gutachter.
Beim untersuchten Fahrzeug wird also die Menge schädlicher Abgase auf dem Prüfstand verringert. Ein dauerhafter Betrieb bei 70 Grad Celsius würde zu einem erhöhten Verschleiß des Motors führen. Im Gutachten geht es um die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, die das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) bereits in einem Rückruf bemängelt hatte. Kühlmittel-Sollwert-Temperaturregelungen sind unzulässige Abschalteinrichtungen, die erkennen, wenn sich ein Fahrzeug auf dem Prüfstand befindet.
Das KBA beschreibt die Funktion bei Fahrzeugen mit dem Dieselmotor OM 651 und der Abgasnorm Euro 5 wie folgt: „Mit Hilfe eines elektrisch beheizbaren Thermostats im Kühlmittelkreislauf erfolgt in Abhängigkeit von den Drehzahl- und Lastbedingungen sowie Umgebungs- und Betriebsstoffbedingungen eine Sollwertabsenkung der Kühlmitteltemperatur von 100 °C auf 70 °C.“ Durch die niedrigere Temperatur verändert sich die Abgasrückführung. So können die Grenzwerte auf dem Prüfstand eingehalten werden.
Daimler widerspricht dem Gutachten und dem KBA
Laut dem Abgasexperten Prof. Kai Borgeest von der Technischen Hochschule Aschaffenburg, den der BR zitiert, beschreibt das Gutachten eine unzulässige Abgasmanipulation: „Die nachgewiesene Abschalteinrichtung kann dazu führen, dass die Stickoxid-Emissionen im Straßenverkehr die am Prüfstand gemessenen Emissionen erheblich übersteigen.“ Es sei nicht erkennbar, dass die Funktion zum Schutz des Motors notwendig ist – daher sei sie unzulässig.
Daimler hat dazu erklärt, es sei bereits seit Mai 2019 bekannt, dass das Kraftfahrtbundesamt (KBA) die so genannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung in bestimmten Fahrzeugvarianten als unzulässige Abschalteinrichtung einstuft. Daimler halte die Funktionalität jedoch für zulässig. Deshalb habe der Konzern Widerspruch gegen die Rückruf-Bescheide des KBA eingelegt. Laut Daimler ist die Software mit der beanstandeten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung in etwa 100.000 Fahrzeugen verbaut.
Hinweise auf weitere Abschalteinrichtung
Der Sachverständige des LG Stuttgart hat in dem Gutachten außerdem erklärt, wann die Software die Abschalteinrichtung deaktiviert: „Eine höhere Drehzahl oder ein höherer Luftmassenstrom für eine Dauer von fünf Sekunden genügen, um auf die höhere Solltemperatur umzuschalten.“ Umgekehrt könne erst nach 54 Minuten wieder auf die niedrigere Solltemperatur zurückgeschaltet werden. Das gilt als Indiz dafür, dass hier für den NEFZ-Test programmiert wurde.
Der Sachverständige hat noch eine mögliche Manipulation entdeckt: Eine weitere Abschaltvorrichtung öffne fast während der gesamten Prüffahrt die Kühlerjalousie. „Dies führt zu einer fehlerhaft niedrigen Messung der CO2-Emission, da der Luftwiderstand mit geschlossener Kühlerjalousie gemessen wird. Zudem ist die Abgasrückführkühlung bei geöffneter Kühlerjalousie effizienter, was zu einer weiteren Verbesserung der NOX-Werte führt“, so der Gutachter.
Verbraucherfreundliches EuGH-Urteil zu Abschalteinrichtungen
Das Gutachten des LG Stuttgart bezieht sich ausschließlich auf Daimler-Fahrzeuge. Doch am 17. Dezember hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein wichtiges Grundsatzurteil verkündet, das fast die gesamte Autobranche betrifft. Die obersten Richter in Luxemburg haben entschieden, dass Abschalteinrichtungen wie das sogenannte Thermofenster grundsätzlich illegal sind. Geschädigte Verbraucher haben jetzt also beste Chancen, nicht nur von der Daimler AG Schadensersatz zu erhalten. Auch auf die anderen Autohersteller dürften weitere Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe zukommen.
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