Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof (BGH), Stephan Seiters, soll „die Grundrechte von Dieselklägern in eklatanter Weise verletzt“ haben. Deshalb fordern 72 Verbraucherrechtsanwälte dienstrechtliche Maßnahmen gegen Seiters. Die Anwälte werfen Seiters vor, die Oberlandesgerichte gedrängt zu haben, Diesel-Verfahren zu verzögern. Deshalb haben sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei der BGH-Präsidentin Bettina Limperg eingereicht. Zu den Unterzeichnern gehören auch drei Anwälte der Kanzlei VON RUEDEN.
Dass der Vorsitzende Richter der VI. BGH-Zivilkammer sich dafür eingesetzt hat, Diesel-Verfahren zu verzögern, belegt ein Schreiben des damaligen Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden, Gilbert Häfner, vom April 2020. Darin hatte Häfner sämtliche OLG-Präsidenten gebeten, Entscheidungen in Diesel-Verfahren zurückzustellen. Dabei hatte er sich explizit auf eine Mitteilung von Seiters berufen, in der es hieß: Sein Senat sei „dankbar für jedes Verfahren“, das die Berufsgerichte zunächst zurückstellen könnten. Mit den anderen Mitgliedern der VI. Zivilkammer war diese Mitteilung nicht abgestimmt.
Vertrauen in die Justiz erschüttert
„Herr Seiters hat damit eigenmächtig Einfluss auf die Verfahren bei den Instanzgerichten genommen“, so der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, der ehemalige Kanzleipartner von Dr. Julius Reiter, Professor für Wirtschaftsrecht, der die Beschwerde im Namen der Kanzleien verfasst hat. Das sei ein schwerwiegender Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien gewesen und erschüttere das Vertrauen in die Justiz, so Baum.
Eine aktuelle Verfügung des OLG München zeigt, dass das Vorgehen des BGH-Richters Seiters weitreichende Folgen hatte (Az. 7 U 7019/20). „Der Senat beabsichtigt insbesondere auch auf ausdrückliche Bitte des Vorsitzenden des VI. Zivilsenats des BGH, die Diesel-Abgasfälle erst dann zu terminieren, wenn eine höchstrichterliche Entscheidung ergangen ist“, heißt es darin. „Wir verstehen durchaus, dass die Vielzahl von Dieselklagen für eine erhebliche Belastung beim BGH gesorgt hat“, erläutert Reiter. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass der Rechtsweg de facto verkürzt und Klägerrechte eingeschränkt würden.
Eklatante Verletzung der Grundrechte von Verbrauchern
Weil VW einen Vergleich verweigert habe, hätten Kläger keine andere Wahl gehabt, als den Klageweg zu nutzen. Zudem habe sich die Musterfeststellungsklage gegen den Konzern als nicht hinreichend effizient erwiesen. „Auch bei einer erheblichen Belastung der Gerichte haben Bürger Anspruch darauf, dass sich Richter mit ihren Fällen und ihren Argumenten befassen“, so Baum. In instanzgerichtlichen Verfahren zum Dieselskandal würden immer wieder neue Aspekte auftauchen und rechtlich zum Tragen kommen. Er finde es ungeheuerlich, wenn ein BGH-Richter seinen Kollegen an den Oberlandesgerichten vorgreifen wolle. Das sei ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, die gerade Bundesrichter verteidigen sollten.
Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Seiters
Wegen dieses Vorgehens des Vorsitzenden Richters am BGH haben 72 Verbraucheranwälte bei der BGH-Präsidentin Bettina Limperg eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Seiters eingereicht – darunter auch Johannes von Rüden, Fabian Heyse und Sebastian Steffens von der Verbraucherrechtkanzlei VON RUEDEN, die sich auf Dieselklagen spezialisiert hat. Abgesehen von der Einflussnahme auf die Justiz gehen Verzögerungen von Dieselklagen auch finanziell zu Lasten der klagenden Autobesitzer, denn je länger ein Verfahren dauert, desto geringer fällt die Schadensersatzsumme aus, die vor Gericht erstritten werden kann.
Präsidentin Limperg muss jetzt entscheiden, ob der Beschwerde stattgegeben wird. Sie kann zu disziplinarischen Maßnahmen und/oder dem Abzug Seiters aus dem Bereich der Dieselklagen sein. Es könnte ihm daher auch eine Absetzung als Vorsitzender der Kammer drohen.