Unfall bemerkt oder nicht? Bedeutung gutachterlicher Untersuchungen bei Unfallflucht

Veröffentlicht am in Strafrecht

Hohe Verfahrenszahlen trotz niedriger Aufklärungsquote

Die Anzahl der Verfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 StGB ist nach wie vor alarmierend hoch. Im Jahr 2012 wurden allein in Nordrhein-Westfalen 115.846 Verkehrsunfälle mit Flucht registriert. Obwohl die Aufklärungsquote mit 45,6 % relativ gering ist, gehört die Unfallflucht zu den Massendelikten, die täglich tausendfach vor deutschen Gerichten verhandelt werden.

Wenn man den verantwortlichen Fahrzeugführer ermitteln kann, bestreitet dieser in der Praxis regelmäßig, das Unfallereignis als solches bemerkt zu haben. Denn irrte sich der Beschuldigte darüber, dass sich überhaupt ein Unfall ereignet hat, darf er mangels Vorsatz nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB nicht bestraft werden.

Verteidigungsstrategie: Unfallanalytisches Sachverständigengutachten

Für eine effektive Verteidigung gegen den Vorwurf einer wissentlichen Unfallflucht ist es entscheidend, ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten zur Frage der Bemerkbarkeit des Zusammenstoßes einzuholen. Nur ein solches Gutachten kann klären, ob der Fahrzeugführer den Unfall tatsächlich wahrgenommen hat oder zumindest hätte, wahrnehmen können und müssen.

Fall aus der Praxis der Unfallflucht

Ein Autofahrer beschädigt beim rückwärtigen Ausparken ein anderes Fahrzeug und entfernt sich anschließend vom Unfallort, ohne seine Personalien zu hinterlassen. Ein Zeuge beobachtet den Vorfall und notiert sich das Kennzeichen.

Bei seiner späteren Vernehmung bei der Polizei räumt der Beschuldigte zwar ein, zur fraglichen Zeit am Unfallort gewesen zu sein. Er bestreitet aber, einen Zusammenstoß bemerkt zu haben. Ohne die Beauftragung eines Privatgutachters durch die Verteidigung stünde es hier Aussage gegen Aussage – mit schlechten Erfolgsaussichten für den Beschuldigten.

Das Ergebnis des eingeholten Sachverständigengutachtens ergibt jedoch, dass ein Anstoß für den Fahrer aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls (niedriges Tempo, schlechte Straßenverhältnisse, laute Musik im Fahrzeug etc.) tatsächlich nicht zwingend spürbar gewesen sein muss. Damit ist der Vorsatz nicht mehr ohne vernünftige Zweifel nachweisbar und das Verfahren wird eingestellt.

Defizite bei gerichtlich beauftragten Unfallflucht Gutachten

Der Beschuldigte sollte sich nicht darauf verlassen, dass ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten zu für ihn entlastenden Ergebnissen kommt. Manche Gerichte bestellen immer wieder dieselben „Haus- und Hofgutachter“, deren Ergebnisse schon im Vorfeld feststehen. Bei einigen Gutachtern scheint es den Erfahrungssatz zu geben, dass jede Fahrzeugkollision bemerkbar sein muss.

Zudem weisen Gutachten zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort viele potenzielle Fehlerquellen auf. So werden relevante Aspekte wie Anstoßwinkel, Fahrbahnbelag oder äußere Störfaktoren (Regen, Mitfahrer, Radio) nicht immer ausreichend berücksichtigt. Auch erfolgen Versuche häufig nicht mit den tatsächlich beteiligten Fahrzeugmodellen.

Privat eingeholte Gegengutachten als wichtiges Instrument

Weigert sich das Gericht, selbst ein Gutachten einzuholen oder liegt ein für den Beschuldigten nachteiliges Gutachten bereits vor, ist es ratsam, als Verteidigung ein privates Gegengutachten einzuholen. Auch wenn im Strafrecht eigentlich die Unschuld des Angeklagten vermutet wird, stehen ohne Entlastungsgutachten alle Zeichen auf Verurteilung.

Ein erfahrener Privatgutachter prüft auch ein schon vorliegendes Gerichtsgutachten kritisch auf mögliche Fehler und Fehlschlüsse. Seine Erkenntnisse können dann rechtzeitig in das Verfahren eingebracht werden. Die Ladung des Privatgutachters als Zeuge kann notfalls über das Selbstladungsverfahren nach §§ 220, 38 StPO erzwungen werden.

Weitere Infomationen zum Verkehsstrafrecht

Wer trägt die Kosten für Unfallflucht Gutachten?

Die Kosten für einen Privatgutachter sind bei rechtskräftiger Verurteilung durch den Beschuldigten selbst zu tragen. Eine bestehende Rechtsschutzversicherung übernimmt im Rahmen der Strafverteidigung aber auch die Kosten für erforderliche Privatgutachten – anders als im Zivilprozess. Bei einem Freispruch sind die Auslagen des Privatgutachters aus der Staatskasse zu erstatten, wenn er in der Hauptverhandlung gehört wurde (§ 220 Abs. 3 StPO).

Zwar können sich letztlich nur Mandanten mit entsprechenden finanziellen Mitteln ein Privatgutachten leisten. Angesichts der hohen Kosten und Konsequenzen einer Verurteilung wegen Unfallflucht lohnt sich die Investition aber in aussichtsreichen Fällen.

Fazit: Privatgutachten bei Unfallflucht verbessert Erfolgschancen erheblich

Deuten die Indizien auf Täterseite (hoher Schaden, Zeugenaussagen) zunächst auf die Bemerkbarkeit eines Unfalls hin, ist eine Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort wahrscheinlich. Bestreitet der Beschuldigte eine vorsätzliche Tatbegehung, sollten Verteidiger daher große Anstrengungen unternehmen, diesem Anschein mit einem Privatgutachten zu begegnen.

Kommt ein gerichtlich beauftragtes Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Unfall für den Beschuldigten wahrnehmbar gewesen sein muss, bestehen kaum noch Chancen auf einen Freispruch. Auch hier gilt es, das Gutachten durch einen unabhängigen Sachverständigen auf Fehler überprüfen zu lassen und ggf. ein fundiertes Gegengutachten vorzulegen.

Erhält das Gericht so zwei sich widersprechende, aber jeweils in sich schlüssige Gutachten, kann es den Vorsatz nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Die Verteidigung kann dann auf eine Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen (§§ 153, 153a StPO) hinwirken. Gelingt dies nicht, bleibt noch die Möglichkeit eines klärenden Obergutachtens.